Tom, Aylin und Paula sitzen mit ihren Mitschülern gemeinsam in der Klasse. Tom versucht in seinem Tempo, einen Text zu lesen, Aylin rollt in ihrem Rollstuhl wild gestikulierend durch den Klassenraum, während Paula versucht, Aylin zu beruhigen. Tom ist entwicklungsverzögert, Aylin hat eine Körperbehinderung und leidet am ADSH-Syndrom, Paula ist hochbegabt. Alle anderen Kinder sind „normal“.
Behinderte und nicht-behinderte Kinder sollen gemeinsam lernen, so steht es in dem Menschenrechtsübereinkommen über die Rechte behinderter Menschen der Vereinten Nationen, das 2008 für die Bundesrepublik in Kraft getreten ist. Ein wesentlicher Schritt in diese Richtung ist der gemeinsame Unterricht von nicht behinderten und behinderten Kindern und Jugendlichen – kurz: Inklusion. Aber mehr noch: Ganz wichtig sei es, dass alle Schüler und Schülerinnen gefördert werden, angefangen von der Einschränkung im kognitiven Bereich bis hin zur Hochbegabung, unbeachtet der Weltanschauung, Religion oder sozialer und kultureller Herkunft, so liest man es auch auf der Website der Senatorin für Bildung und Wissenschaft (www.bildung.bremen.de). Bereits 2009 trat in Bremen ein neues Schulgesetz in Kraft, in dem steht, dass sich alle Schulen zu inklusiven Schulen entwickeln sollen.
Bremen an der Spitze
Das klingt gut und sinnvoll und Bremen gilt sogar als Vorreiter in Sachen Inklusion in der Schule: Laut einer Bertelsmann-Studie von 2012 besuchten in Bremen im Schuljahr 2010/2011 bereits mehr als 40% aller verhaltensauffälligen, lern- und körperbehinderten Kinder eine reguläre Schule, ein Jahr später waren es bereits ca. 55% – im Bundesdurchschnitt waren es 2012 nur 25%. Parallel dazu sank der Anteil der Sonderschüler in den vergangen Jahren: Im Schuljahr 2011/2012 besuchten in Bremen nur noch 2,8% der Kinder eine separate Förderschule. Auch hier ist der bundesweite Durchschnitt mit 4,8% um einiges höher.
Soweit die Statistik, wie aber sieht der Alltag an Bremens Schulen aus?
Seit der Schulreform hat sich in Bremen einiges getan. Mit Beginn des Schuljahres 2010/2011 wurden an den Oberschulen Klassen eingerichtet, in denen behinderte und nicht-behinderte Kinder gemeinsam unterrichtet werden. Die Klassenstärke einer Inklusionsklasse soll 22 Schüler und Schülerinnen betragen, fünf dieser Kinder haben einen besonderen Förderbedarf. Parallel zur Einführung der I-Klassen werden schrittweise die Förderzentren aufgelöst. Für die Hälfte der Unterrichtszeit kommt zusätzlich ein Sonderpädagoge zur Unterstützung der Lehrerinnen und Lehrer in die Klasse.
Förderschulen - ein Auslaufmodell?
Mit der Einführung der Inklusion an den Schulen ist die Hoffnung verbunden, dass Schüler im gemeinsamen Unterricht bessere Möglichkeiten haben, einen Schulabschluss zu machen. 77% aller Schüler und Schülerinnen an Förderschulen erreichten bundesweit keinen Hauptschulabschluss, in Bremen sind es über 80%. Bis zum Jahre 2017 wird es in Bremen nur noch drei Förderschulen bzw. Förderzentren geben – so will es der Gesetzgeber. Dabei handelt es sich um Schulen für schwerst mehrfach behinderte Kinder, für Schüler mit Verhaltensauffälligkeiten sowie für Seh- und Hörbehinderte.
Ina Möller, Mutter einer stark sehbehinderten Tochter, hat sich im letzten Jahr gemeinsam mit ihrem Mann für den Wechsel von einer Förderschule für Blinde und Sehbehinderte auf eine Regelschule entschieden und diesen Schritt nicht bereut: „Statt der Pflege von Defiziten, gibt es jetzt ein normales Umfeld, in dem unsere Tochter mit ihren neuen Aufgaben gewachsen ist. Unser Eindruck ist, dass den Kindern an den Sonderschulen häufig zu wenig zugetraut wird und damit ihre Chancen auf eine Integration in den normalen Alltag verringert werden. Allerdings müssen die Regelschulen für diese Integrationsarbeit auch personell und fachlich entsprechend ausgestattet sein." Ina Möller hätte sich mehr Beratung seitens der Behörden gewünscht und musste für den Schulwechsel viel Eigeninitiative aufbringen. „Für Kinder wie meine Tochter, die mit ihrer Behinderung und Entwicklung zwischen allen Stühlen sitzen, gibt es bisher im Schulsystem keinen klaren Weg und viele Schulen sind damit überfordert." Damit, dass alle Kinder und alle Behinderungen individuell sehr unterschiedlich seien, müsse das System erstmal fertig werden. „Früher mussten sich die Kinder und Menschen dem System anpassen, heute wird viel mehr auf die individuellen Bedürfnisse eingegangen. Inklusion ist ein guter Weg, braucht aber Zeit, Personal und Geld" erklärt die engagierte Mutter.
Intensive Betreuung notwendig
Die Tobias-Schule in Oberneuland ist eine integrativen Förderschule in freier Trägerschaft, die sich an dem Konzept und Lehrplan der Waldorfschulen orientiert. An der Tobias-Schule werden seit 30 Jahren Kinder mit sehr unterschiedlichem Förderbedarf unterrichtet. Dabei sind Kinder mit chromosomalen Störungen, aber auch Kinder mit geistigen Behinderungen. Hätte man Klassen getrennt nach Förderbedarf, könne man nur ein relativ niedrigschwelliges Unterrichtsangebot bieten, erklärt Dieter von Glahn, Geschäftsführer der Tobias-Schule. Er bezeichnet seine Art des Unterrichts als "Inklusionsform innerhalb des Förderbereiches". Allerdings müsse man einen guten binnendifferenzierten Unterricht machen, damit keiner der Schülerinnen und Schüler unter- bzw. überfordert wird. Das Konzept funktioniere vor allem durch die kleinen Klassen, den guten Zusammenhalt innerhalb der Gruppe und die intensive Betreuung.
Ausreichende Betreuung fehlt leider oft noch an den Schulen mit Inklusionsklassen. Zwar haben Lehrer in einem Teil des Unterrichts Unterstützung von Sonderpädagogen, in manchen Unterrichtsstunden sind sie allerdings allein in der Klasse und oft ihnen fehlt die Routine – der gemeinsame Unterricht von Kindern mit und ohne Förderbedarf ist für die meisten Lehrer und Schüler eine große Umstellung. Hinzu kommt, dass viele Eltern Zweifel, dass auch die Nicht-Inklusionskinder optimal unterstützt werden, weil die Lehrer einen Großteil ihrer Energie und Aufmerksamkeit auf Kinder mit Förderbedarf verwenden. Die Sorge, dass die Unterrichtsqualität darunter leidet ist, ist durchaus berechtigt. Gerd Menkens, Schulleiter an der Schule Koblenzer Straße, erklärt bei Spiegel online, dass das Konzept der inklusiven Klassen nur gelingen könne, wenn leistungsstarke Schüler fachlich keine Nachteile haben. Dafür brauchen die Lehrer allerdings mehr fachliche und finanzielle Unterstützung.
An der Grundschule an der Augsburger Straße in Findorff funktioniert das gemeinsame Lernen seit vielen Jahren sehr gut. Die Schule kooperiert schon seit 1988 mit verschiedenen Förderzentren, so zum Beispiel mit der Schule am Rhododendronpark, einem Förderzentrum für die Bereiche Wahrnehmung und Entwicklung. Im Zuge der Umstellung zur Ganztagsschule gibt es auch dort Inklusionsklassen. "Die Reaktionen der Eltern sind sehr positiv", erläutert Schulleiterin Andrea Drewes, "und es gibt zahlreiche Anfragen von Eltern mit Kindern ohne Beeinträchtigung, die Wert darauf legen, dass ihr Kind die Inklusionsklasse besucht".
Tom, Aylin und Paula werden auch weiterhin ihre Schulzeit miteinander verbringen und sich gegenseitig helfen, für sie ist das Anderssein ganz selbstverständlich. Andere Kinder, Lehrer und auch Eltern müssen erst noch lernen mit der neuen Situation umzugehen – ein Prozess der Zeit und viel Unterstützung braucht.
Dieser Artikel erschien im Mai 2013 im Kinderzeit-Themenheft "Was heißt hier anders".