Sein erstes Buch schrieb Jonathan Stroud mit sieben. Spätestens mit seiner Bartimäus-Reihe ist er dann einer weiten Öffentlichkeit bekannt geworden. Wovon sein jüngster Roman handelt und wie er mit der Kreativität seiner eigenen Kinder umgeht, erfuhr KinderBÜCHER bei einem Besuch in Harpenden.
„Du musst gegen Monster kämpfen.“ Isabelle schlägt eine neue Seite auf. „Aber du hast eine gute Ausrüstung.“ Die kleine Figur, die ich sein könnte, trägt Jeans, Stiefel und einen großen Rucksack. Im Laden in der Mitte des Buches kann man unter anderem Proviant, eine kleine Laserpistole und Fachliteratur über Monster kaufen, aber auch eine Katze mit verschiedenfarbigen Augen, deren Blick tödlich ist. „Special Offer!“ steht da. Die Katze ist im Sonderangebot. „Wie komme ich an Geld?“, will ich wissen. Isabelle beruhigt mich. „Ein bisschen Geld kriegst du am Anfang. Und auf dem Weg begegnest du Räubern, die du ausrauben kannst.“ Aha. „Aber wenn ich Räuber ausraube, werde ich dann nicht selbst zum Räuber?“ Sie lacht und dreht die Handflächen nach oben, als wollte sie sagen: So ist das Leben.
Isabelle ist neun. Sie besucht die Grundschule, ihre Lieblingsfächer sind Kunst, Englisch und Geschichte. Bibliothekskunde findet sie langweilig. Das Buch, in dem wir lesen, „The Multiverse“ (deutsch: „Das Multiversum“), hat sie selbst geschrieben und illustriert. Es ist ein Entscheide-Dich-Buch im Stil von „Die Insel der tausend Gefahren“, aber mit Rollenspiel-Elementen. Der Leser reist von einem Planeten zum nächsten und erlebt Abenteuer. Es drohen ihm bereits einige schreckliche Enden, Tod in der Arena zum Beispiel, aber in der Mitte weist das Buch noch Lücken auf. „Ich fange so viele Geschichten an und schreibe so wenige fertig!“, seufzt Isabelle. Wenn sie sich ein Buch aussuchen dürfte, um darin zu leben, wäre sie entweder ein Dämon in „Bartimäus“, dem Vierteiler, mit dem ihr Vater berühmt geworden ist, oder eine Zauberschülerin in „Harry Potter“, „aber eine, die nur am Rande vorkommt und nicht getötet wird.“
Isabelles Bruder Arthur zeichnet derzeit fast nur Dinosaurier. Einen Tyrannosaurus Rex, der sich über einen Stegosaurus hermacht, einen kleinen Deinonychus, der nach einer riesigen Libelle schnappt. Für Zeichnungen eines Sechsjährigen sind seine Arbeiten erstaunlich detailreich und dynamisch. Außerdem kann und wird er erklären, wozu die Rückenplatten des Stegosaurus dienten und warum Libellen in der Kreidezeit Flügelspannweiten von bis zu siebzig Zentimetern erreichten. Und er weiß noch viel mehr. Aber auf die Frage, was er nach der Schule am liebsten macht, antwortet er: „Im Garten spielen. Und Fernsehen.“
Obwohl man von Harpenden aus mit dem Zug innerhalb von 30 Minuten ins Zentrum Londons gelangt, liegt der Ort mitten im Grünen. „Als ich ein Kind war“, erzählt Jonathan Stroud, „sind wir einfach spielen gegangen und ein paar Stunden später wiedergekommen. Heute sehen viele Leute überall Gefahr. Wenn Isabelle allein zu einem Haus drei Straßen weiter geht, habe ich auch ein wenig Angst. Aber Kinder brauchen Freiraum – ob sie nun spielen gehen oder ein Buch schreiben wollen.“ Sehr wichtig sei auch unverplante Zeit. „Als Kind habe ich viel Zeit alleine verbracht, ein bisschen geschrieben und gemalt, ein bisschen Unsinn gemacht. Man braucht diese Zeit, um herauszufinden, wer man ist.“
Die Autorin Dagmar Leupold definierte das Schreiben einmal als „Selbstverteidigung gegen das Vorgefundene“. Als ich Stroud frage, gegen was er sich verteidigt, antwortet er mit einem Zitat des Dichters William Blake: „Ich muss ein System erschaffen oder zum Sklaven des Systems eines anderen werden.“ Das sei eine gute Rechtfertigung für den Impuls, Kunst zu machen. „Die Realität besteht aus Beschränkungen. Aber wenn ich schreibe, kann ich machen, was zur Hölle ich will.“ Der Autor macht seine eigenen Regeln. „Manche Leute haben dieses Verlangen schon, wenn sie noch sehr klein sind. Andere brauchen das nicht.“
Seine erste Geschichte schrieb er mit sechs. Sie hieß „Die drei Wünsche“ und handelte von einem Flaschengeist. Danach schrieb er Detektiv- und Abenteuergeschichten. Seine Mutter machte ihm Buchumschläge aus Tapetenresten, einer seiner Grundschullehrer ließ ihn seine Geschichten vor der Klasse vorlesen. Seine Eltern haben das Frühwerk des Sohnes komplett aufbewahrt. „Anerkennung ist wichtig. Jedes Kind sollte jemanden haben, der sagt: ,Das ist gut!‘ und ,Mach mehr davon!‘ Als Autor braucht man ein Publikum.“ Mit zwölf, dreizehn kreierte Stroud interaktive Erzählungen mit Titeln wie „Die Pyramide der Mumie“ und „Der Turm der Untoten“. „Mein bester Freund und ich erfanden Spiele“, erzählt er. „Es war eine Art freundliche Rivalität. Als die Abschlussprüfungen begannen, hatte ich dann kaum noch Zeit für so etwas.“
Er studierte Literaturwissenschaften – „die Wissenschaft davon, lebendig zu sein“ – und war lange als Lektor tätig. Nebenbei arbeitete er an einem Roman. Als dieser 1999 unter dem Titel „Buried Fire“ (deutsch: „Drachenglut“) erschien, wusste er, dass es das war, was er wirklich tun wollte. Seit 2001 ist er freier Autor. Seine Frau, die Grafikdesignerin Gina Stroud, ist seine erste und wichtigste Lektorin. „Nach der Hälfte eines Buches bleibe ich normalerweise stecken und fange an zu zweifeln. Dann gebe ich das Buch Gina, die mir in sehr klaren Worten sagt, was funktioniert und was nicht. Ich habe immer eine wahnsinnige Angst davor, aber es ist auch sehr hilfreich. Wenn sie etwas nicht mag, dann nehme ich es raus.“ „Wenn es doch nur so wäre“, sagt Gina Stroud. „Erinnerst du dich an diesen einen Satz in ‚Tal der Wächter‘? ‚But a fool could still be lucky‘?“ Gina fand den Satz entsetzlich kitschig – „Und das sag ich nicht oft!“ – aber Jonathan brachte es sich nicht über sich, ihn zu streichen. „Heute machen wir Witze darüber.“ Diese Haltung charakterisiert ihre Zusammenarbeit: „Dass ich die erste Fassung von Jonathans Büchern lesen darf, empfinde ich als Privileg. Ich bin ehrlich und unterstütze ihn.“
Als Kind war Gina Stroud am glücklichsten, wenn sie in den Wiesen und Wäldern um ihr Elternhaus umherstreifte. „Ich verbrachte viel Zeit damit, auf Bäume zu klettern und Hütten zu bauen.“ Sie studierte Kunst und Design und spezialisierte sich auf Illustration. Bis zu Isabelles Geburt gestaltete sie Buchcover. „Ich wollte eigentlich viel früher wieder in meinen Beruf zurück, aber Mutter ist einfach ein toller Job!“ Jetzt, wo Arthur zur Schule geht, würde sie gern neue Projekte angehen – vielleicht sogar gemeinsam mit ihrem Mann.
Strouds neue Serie begann mit einem Bild: Ein Junge und ein Mädchen in moderner Kleidung, aber mit Degen an den Gürteln, warten vor einer Tür. Im Inneren des Hauses, das wusste Stroud, werden sie einem Geist begegnen. „Lockwood & Co.“ spielt in einem Großbritannien, das seit den 1940er-Jahren von einer Geisterplage heimgesucht wird. Nach Einbruch der Dunkelheit gehören die Straßen den Toten. Die meisten sind unheimlich, aber harmlos. Doch Geister vom Typ II können Menschen ernsthaften Schaden zufügen. Die Geisterstarre, ein Zustand völliger Willenlosigkeit und grauenhafter Verzweiflung, ist so tödlich wie ein schwerer Gegenstand in der Hand eines Poltergeists. Nur Kinder nehmen Geister rechtzeitig wahr. Viele von ihnen arbeiten als Nachtwachen, die besonders begabten als Agenten. Mit Degen, Salz und Eisen bekämpfen sie Geister – unter Einsatz ihres Lebens und als Angestellte großer Agenturen. Strouds Parallel-Großbritannien ist von Armut geprägt, die Geisterplage hat auch der Wirtschaft geschadet.
„Ich wollte eine Welt, in der es einen echten Grund dafür gibt, dass drei Kinder zusammen in einem Haus leben, eine gefährliche Arbeit machen und dafür bezahlt werden“, erklärt der Autor. Lockwood, George und Lucy arbeiten auf eigene Rechnung. „Lockwood ist so, wie ich gern wäre, charmant, elegant und kühn“, sagt Stroud. „Im wirklichen Leben stolpere ich oft oder kleckere mit Tomatensoße.“ Sein Gegenpol George, der Forscher und Rechercheur der Truppe, ist „ein wenig schmuddelig und sarkastisch“. Lucy hört nicht nur die Stimmen und Schritte der Geister, sondern spürt auch ihre Emotionen. Dieselbe Begabung, die ihr immer wieder das Leben rettet, macht sie auch besonders verletzlich. Und prädestiniert sie zur Ich-Erzählerin.
Lucy ist acht, als sie ihre Ausbildung zur Agentin antritt, elf, als sie zum ersten Mal mehr verdient als ihre Mutter, eine Wäscherin, und zwölf, als sie fünf Kollegen wegen einer Unachtsamkeit ihres Arbeitgebers sterben sieht. Ohne sich umzusehen, verlässt sie ihre Familie und die Stadt, in der sie geboren wurde. Lockwoods Eltern sind Wissenschaftler und seit Jahren verschollen, und auch George ist auf sich gestellt.
Judith Hoersch, die das Hörbuch des ersten Bandes „Die Seufzende Wendeltreppe“ eingelesen hat, lässt Lucy stets wehrhaft klingen. Als George verschleppt sie jede Silbe ein wenig. Ihr Lockwood hat schon jenes Kratzen in der Stimme, das den Stimmbruch ankündigt. In der Villa von Lockwoods Eltern schaffen die drei Kinder einander ein Zuhause. „George ist in gewisser Hinsicht eine mütterliche Figur. Er ist derjenige, der das Essen kocht und alle an ihre Verpflichtungen erinnert. Aber die familiären Beziehungen verändern sich ständig. Ich hatte großen Spaß daran, das zu schreiben.“
Notizen, Ideen und Pläne notieren die Agenten auf dem „Weisen Tuch“, dem Tischtuch in der Küche. „Das war Isabelles Idee“, erzählt Jonathan Stroud. „Wir gehen viel zusammen spazieren. Und wenn ich ihr erzähle, woran ich gerade arbeite, macht sie alle möglichen Vorschläge. Vielleicht liest sie das Buch auch bald. Wenn sie will.“
Das Magazin KinderBÜCHER ist ein jährliches Sonderheft zur Kinder- und Jugendliteratur aus der Redaktion der Zeitschrift BÜCHER aus dem falkemedia Verlag Kiel. Die nächste Ausgabe von KinderBÜCHER erscheint am 06.10.2014.