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Wenn Eltern psychisch krank sind, leiden auch die Kinder. Nicht nur ihr Risiko, selbst einmal ähnliche Störungen zu entwickeln ist ungleich höher, als bei anderen Kindern. Oft werden sie auch unfreiwillig zu „young carers“, das heißt zu Minderjährigen, die die Pflege der Eltern und Aufgaben in der Familie übernehmen, zu denen Mutter oder Vater aufgrund ihrer Erkrankung nicht mehr in der Lage sind. Dass sie damit überfordert sind und neben der Schule keine Zeit mehr für Freundschaften ist, sind nur zwei der schwerwiegenden Konsequenzen für die Entwicklung. „‚Mein Vater ist Alkoholiker’ ist kein Thema für den Schulhof. Umso wichtiger ist es, dass Kinder einen Anlaufpunkt bekommen, wo sie sich austauschen können“, sagt Anja Stahmann, Senatorin für Jugend und Soziales, die das Projekt „Kidstime“ Ende 2107 gemeinsam mit Vertretern von Jugendamt, dem Diakonieklinikum Rotenburg und der St. Michaelis-St. Stephani Gemeinde in Bremen vorgestellt hat.
Verglichen mit der schweren Belastung der Kinder, bedarf es vergleichsweise einfacher Mittel, dieser entgegenzuwirken: Erklärungen, Entlastung und spielerische Angebote sind der Weg aus der Isolation, die Kinder sollen wieder in den Mittelpunkt rücken, und genau da setzt Kidstime an: „Kidstime ist ausdrücklich keine Therapie, sondern ein Workshop, der ehrliche Antworten, einen Austausch auf Augenhöhe und Zugang zu anderen Kindern in ähnlicher Situation ermöglichen soll“, erklärt Klaus Henner Spierling. Der Diplom-Psychologe der Kinder- und Frauenklinik am Agaplesion Diakonieklinikum in Rotenburg hat das Kidstime-Projekt, das 1990 in London entwickelt und gestartet wurde, nach Deutschland geholt. Seit März 2015 haben in Rotenburg 30 Familien an den Workshops teilgenommen und 2016 gab's dafür den Niedersächsischen Gesundheitspreis. Ende 2017 startete die erste Kidstime-Gruppe mit fünf Familien in Bremen, jeden Monat kommt eine neue dazu und weitere Standorte in Deutschland sollen folgen.
Nicht weniger als 29.000 Familien mit Kindern unter 18 Jahren sind in Bremen betroffen, für die es bislang kaum bis gar keine Angebote zur Hilfe und Unterstützung gab. Anstelle eines Therapeuten brauchen die Kinder stabile Ansprechpartner und den Kontakt zu Menschen mit ähnlichen Erfahrungen. Grund genug auch für Rolf Diener, Leiter des Jugendamts Bremen, das Projekt zu fördern: „Wir stärken damit die Resilienz der Kinder und gehen davon aus, dass wir durch diese präventive Maßnahme zur Sicherstellung des Kindeswohls an anderer Stelle Geld einsparen.“ Denn auch darum geht bei den Workshops: Die Widerstandsfähigkeit der Kinder und ihre Fähigkeit, Krisen zu bewältigen, zu stärken. Dabei darf man sie nicht alleine lassen. Denn neben Alkoholismus und langanhaltenden Depressionen sind es oft schwere und unbehandelte psychische Erkrankungen wie Panikattacken, Selbstverletzung, Wahn oder Suizidgedanken der Eltern, die einen normalen Familienalltag unmöglich machen können.
Den ersten Schritt müssen die Betroffenen selbst machen, ihre Offenheit und Bereitschaft, an dem Programm teilzunehmen, ist die Grundvoraussetzung für den Erfolg, dazu bedarf es Mut und Einsicht. Ganz wichtig: Die Gruppen sind extra klein gehalten und bestehen aus maximal fünf Familien und die Workshops sind freiwillig, es besteht zu keiner Zeit eine Teilnahmepflicht und auch wer mal Termine aussetzt, ist später immer wieder herzlich willkommen. Denn schließlich sollen die Treffen die Familien entlasten, nicht zusätzlich einschränken oder Druck aufbauen.
In einem geschützten Rahmen können sich die Familien untereinander in offener Atmosphäre zu den Themen psychischer Erkrankungen austauschen. Es finden beispielsweise Gruppendiskussionen für Eltern statt und für Kinder und Jugendliche sind selbstentwickelte Theaterstücke ein wichtiger Bestandteil der Treffen, in denen sie lernen, sich emotional auszudrücken und künstlerisch mitzuteilen. In Bremen unterstützt daher auch Schauspieler und Regisseur Thomas Ulrich, der schon lange Erfahrung in Schauspieltraining, Unterricht und Projekten mit Kindern und Jugendlichen hat, und spielt eine wichtige Rolle in den Workshops: „Ich habe in meiner Arbeit immer wieder feststellen müssen, dass es erstaunlich hohe Hemmschwellen im Umgang mit psychischen Erkrankungen gibt. Das ist ein Tabu-Thema, und umso mehr freue ich mich auf das Projekt.“ Neben dem Theater spielen, Informationen und Austausch zu psychischer Erkrankung werden Spaß und Freude großgeschrieben, und nicht selten enden die Treffen beim ausgelassenen Pizza-Essen in der Gruppe. „Auch mal drüber lachen zu können, ist sehr erleichternd“, erklärt eine Mutter, die Kidstime zusammen mit ihren beiden Söhnen in Rotenburg seit Beginn des Projekts regelmäßig besucht. „Meine Söhne haben in der Gruppe Freundschaften geschlossen und wir freuen uns immer schon auf die nächsten Treffen“, beschreibt sie den Erfolg, den das Projekt ihrer Familie gebracht hat. Und weiter: „Es tut gut, mit anderen Eltern zu sprechen, ohne sich ständig erklären zu müssen. Inzwischen helfen wir Eltern uns sogar gegenseitig.“
Gefühle der Isolation verschwinden, das Vertrauen und Selbstvertrauen wird gestärkt, der Erfahrungsaustausch ermöglicht und Antworten auf Fragen, die man bisher nicht stellen konnte, sind weitere Ziele und Erfolge von Kidstime. Im Vordergrund steht immer die Vertraulichkeit. Betroffene Eltern und Kinder entscheiden selbst, ob und mit wem vom Team sie über ihre Themen sprechen möchten. Dabei stehen die Bedürfnisse des Kindes im Mittelpunkt. Ihre Sorgen werden ernst genommen und in direkten Gesprächen einfühlsam behandelt. Wer überlegt, an einem der Workshops teilzunehmen, kann sich über das Jugendamt beraten lassen, sich an die St. Michaelis-St. Stephani Gemeinde Bremen oder direkt an Klaus Henner Spierling wenden, um Informationen oder einen Termin für ein unverbindliches Beratungsgespräch zu vereinbaren: kidstime@systemeo.de, 01520-6227127.
Weitere Informationen und Termine für Grupentreffen unter www.systemeo.de