Tut sich da denn wirklich gar nichts in der deutschen Bildungslandschaft? Doch. Immer mehr Modell- und Projektschulen entwickeln eigene Konzepte jenseits konventioneller Curricula und unterrichten die Kinder in alltagstauglichen und sozial ausgerichteten Fächern. Neben Mathe, Deutsch und Englisch stehen Naturerkundung, Windradbau und Fabulieren auf dem Stundenplan, und der Studiengang „Erlebnispädagogik“ bereitet angehende Lehrkräfte auf eine neue Zeit an den Schulen vor.
Schule neu denken
Hat sich die jahrzehntealte Parole womöglich endlich einen Weg ins echte Schulleben gebahnt? Werfen wir doch mal einen Blick in die Klassenzimmer:
Kinderschule Bremen
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Projektpräsentation an der KiSchu
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Die KIK Reporter:innen
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Lernen in der Stammgruppe
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Die Zirkus-Projektgruppe
Von Bremens erster Alternativschule, der KiSchu, haben viele schon gehört: Gegründet wurde sie 1980 als freie Ganztags-Grundschule von einer Elterninitiative; seit 1993 ist sie als staatliche Modellschule im bremischen Schulsystem verankert und macht vor, wie „anders lernen“ funktionieren kann. Herzstück des pädagogischen Konzeptes an der konsequent inklusiven „Schule für alle“ sind altersgemischte Lerngruppen. In der Verknüpfung von Lern- und Betreuungsangeboten ist die Projektarbeit das wichtigste Element des „Unterrichts“. Die KiSchu ist Mitglied im Bundesverband der Freien Alternativschulen, zu deren Grundsätzen auch gehört, dass sie von allen Beteiligten gemeinschaftlich gestaltet und immer wieder kritisch hinterfragt werden. Die Kinder, Jugendlichen, Eltern, Pädagog:innen und sämtliche Mitarbeiter:innen schaffen ihre eigenen Regeln und Strukturen, die ständig neu gedacht und weiterentwickelt werden, um neue Formen der Gesellschaft zu erproben. Auf dem Stundenplan stehen morgens und nachmittags die „Kulturtechniken“ Rechnen, Schreiben und Lesen. Von 11 bis 13:30 Uhr ist Zeit für freie Projektarbeit, wobei die Inhalte der Lernbereiche wie Sachunterricht, Kunst, Musik, Sport, Werken und Ethik in Form von Angeboten organisiert werden, aus denen die Schüler:innen ein Projekt nach ihren eigenen Interessen und Neigungen auswählen.
Die SuS üben sich in Kalligrafie, werden Wiesenforscher:innen oder betreiben eine Fabulierfabrik.
In den Fächern Theater, Musik, Werken, Stadterkundung, Kochen, Atelier, Sport, Schwimmen oder Naturerkundung schnuppern sie zu Beginn des Schulhalbjahres zwei Wochen lang in die Angebote hinein, danach wird gemeinsam ein Stundenplan für die Projektarbeit erstellt, der bis zu den nächsten Ferien gilt. Nach dem Mittagessen folgen freies Spiel, zusätzliche Angebote, Einzelbetreuungen oder Zeit, um an den Projekten weiterzuarbeiten. Um 13.30 Uhr finden sich die Kinder wieder in ihren altersgemischten Stammgruppen ein und arbeiten im individuellen Tempo an ihren Fertigkeiten im Schriftsprachenerwerb oder Zahlenräumen. Philine Schubert, die seit 2009 mit dem Auftrag der inklusiven Schulentwicklung an der KiSchu arbeitet und seit 2015 die Schule leitet, plant derzeit zusammen mit einem Team die Gründung der Jugendschule Bremen, die möglichst im Schuljahr 2023/24 eröffnet werden soll, sofern sich ein passendes Gebäude findet und die Bildungsdeputation entscheidet, dass das Konzept der JuSchu mit den rechtlichen Bestimmungen der Oberschulverordnung übereinstimmt.
Schule am See
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OS Sebaldsbrück
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Gemeinschaftsarbeit
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Berichte schreiben kann Spaß machen
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Naturbeobachtung im Unterricht
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Lernen mit Tieren in freier Wildbahn
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Leinen statt Wände
Mit dem Outdoor-Unterricht auf der ehemaligen Galopprennbahn wurde die Oberschule Sebaldsbrück bekannt. Wo früher auf Pferde gewettet wurde, findet sich jetzt das größte Klassenzimmer der Ganztagsschule, an der 357 Schüler:innen im Jahrgangsverbund von Klasse 5 bis 10 gemeinsam lernen. Auf der Rennbahn stehen Fächer wie „Naturkind“ auf dem Stundenplan, wo die Kinder vor allem fächerübergreifende Fähig- und Fertigkeiten erlernen. Los ging es 2021 mit der Projektwoche der 5. Klasse zum Thema Steinzeit, bei der alle gemerkt haben: Diese Art Unterricht wollen wir beibehalten. Aus den drei Wochen wurden drei Monate, „weil die Kinder einfach nicht wieder rein wollten“, wie Schulleiterin Claudia Bundesmann berichtet. Danach wurde der 5. Jahrgang zuerst komplett auf der Rennbahn unterrichtet, inzwischen sieht der Unterrichtsplan so aus: Die Schüler:innen des 7. und 8. Jahrgangs werden eine Woche lang draußen und zwei Wochen drinnen im Wechsel unterrichtet. Die anderen Jahrgänge haben in jeder Woche einen Projekttag draußen, an dem zum Beispiel das Steinzeitdorf von jeder 5. Klasse neu aufgebaut wird. Außerdem wird gerade die neue Freilichtbühne gebaut, auf der die Theaterklasse am 23. und 24. Juni 2022 Premiere mit ihrer Aufführung von „Schwanensee“ in Kooperation mit Künstler:innen der Schwankhalle feiert. Auch ein 500 Quadratmeter großer Gemüseacker ist entstanden, wo die Schüler:innen von der Saat bis zur Ernte zu Selbstversorger:innen werden.
Demnächst soll ein Profi die neue Draußenkochschule begleiten.
Zu jedem Projekt gehört das Schreiben von detaillierten Protokollen, so dass auch der Deutschunterricht nicht zu kurz kommt. Schließlich müssen sich auch Projektschulen an den Bildungsplan halten, der zwar einen gewissen Gestaltungsrahmen zulässt, „alles in allem aber viel zu überfrachtet ist“, wie Schulleiterin Claudia Bundesmann kritisiert. Vorbild für Bundesmanns Ideen ist die schulpreisausgezeichnete Montessori-Oberschule am See in Potsdam: Statt Klassen gibt es dort Lerngruppen, statt in Jahrgängen wird in jahrgangs- und fächerübergreifenden „Dörfern“ gelernt, deren Konzept den Begriff „Projekt“ so versteht: Als gemeinschaftliches Vorgehen, um ein Problem zu lösen.
Grundschule Borchshöhe
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Der Mentorenkreis tagt
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Kommt eine Kuh in die Schule...
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Schulversammlung
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Spielen gehört zum Lernen
Unter Bremens Grundschullehrer:innen gilt sie als leuchtendes Beispiel: An der inklusiven Ganztagsgrundschule gibt es seit 20 Jahren basierend auf dem schwedischen Konzept „Skola 2000“ keine Zensuren mehr; Leistungskontrollen finden in individuellen Gesprächen oder als Präsentationen statt. Der 45-Minuten-Takt wurde aufgehoben und der Gong abgeschafft. Gunda Strudthoff leitet die Schule, an der 55 Prozent der Schüler:innen „nicht deutsche Muttersprachler:innen“ und rund die Hälfte Inhaber:innen des Bremen-Passes sind, als „Lern- und Lebensort, der den Menschen in seiner Einzigartigkeit wahrnimmt.“ Sie und das Kollegium sehen sich nicht als Lehrkräfte, die nur Lesen, Schreiben und Rechnen vermitteln, sie betrachten sich als Mentor:innen, die Interessens- und Begabungsförderung betreiben und die Kinder als Berater:innen begleiten, die in großem Umfang auch sozialpädagogische Aufgaben wahrnehmen.
In der Borchshöhe sieht der Stundenplan jede Woche anders aus:
Jedes Kind schreibt und reflektiert seinen eigenen Wochenplan gemeinsam mit dem/der Mentor:in, je älter die Schüler:innen sind, desto eigenständiger. Projektunterricht macht einen wesentlichen Teil des Schultages aus, in dem die Interessens- und Begabungsförderung auch über den Unterricht hinausgeht. Die Lerninhalte bestimmen die Schüler:innen maßgeblich mit, so entstand das „Mittagsband“ aus dem Wunsch des Schülerrats nach einem Angebot für die Mittagszeit. Dort kommen jede Woche Expert:innen aus dem Stadtteil in die Schule, um ihre speziellen Kompetenzen an die Kinder weiterzugeben. Dabei lernen die Kinder zum Beispiel Schach mit Senior:innen aus dem Stadtteil, ein Instrument mit der Musikschule oder Theater mit Regisseur:innen vom Theater Bremen. „Anders lernen“ geschieht auch in Form von Projekten, die alle Kinder jahrgangsübergreifend gemeinsam entwickeln. Sie erfahren dabei komplexe Themen und Problemstellungen auf eine spielerische Weise und nähern sich fremden Kulturen und Sprachen handlungsorientiert und nachhaltig. Der begleitende Unterricht bereitet die behandelten Themen theoretisch auf, wobei die Kinder zur Förderung der Selbstlernmotivation von Beginn an in die Planung miteinbezogen werden.
Gesamtschule Mitte
Selbstständiges Lernen ist auch ein Schwerpunkt an der Gesamtschule Mitte (GSM), die sich in zwei Standorte an der Hemelinger und an der Brokstraße mit insgesamt fast 700 Schüler:innen aufteilt. Als eine von vier UNESCO-Projektschulen im Land Bremen steht die GSM nicht nur theoretisch für Frieden, Freiheit, Demokratie und die Umsetzung der Menschenrechte ein, sie praktiziert diese Grundsätze auch, indem zum Beispiel die Schüler:innen erhebliche Mitspracherechte haben.
Ausgehend von dem Wissen, dass Kinder unterschiedlich schnell, konzentriert oder interessiert auf Arbeitsaufträge reagieren, stellen sich die Schüler:innen ihren Stundenplan innerhalb eines bestimmten Rahmens selbst zusammen.
Die Lernangebote umfassen die drei Bereiche „Lernbüro“, „Projekt“ und „Werkstatt“. In den Jahrgängen 5 bis 7 nimmt der Bereich „Projekt“ als Herzstück mit acht Wochenstunden einen großen Teil ein. In ihren nach Interessen selbstgewählten Projekten stellen die Schüler:innen Forscherfragen, recherchieren eigenständig, stellen Produkte her und präsentieren ihre Ergebnisse vor der Gruppe. Im zweiten Bereich, den Lernbüros, werden die Fächer Mathe, Deutsch und Englisch für eine bestimmte Stundenzahl innerhalb einer Schulwoche reihum besucht. Und in der dritten Säule, der Werkstatt, finden sich die Fächer Sport, Naturwissenschaften, Kunst, Theater, Musik sowie die zweite Fremdsprache wieder. Dabei ist das jahrgangsübergreifende Lernen und gegenseitige Unterstützen der Mitschüler:innen unterschiedlichen Alters für alle hilfreich: Die Älteren helfen den Jüngeren und sich selbst durch die wiederholte Erarbeitung der Unterrichtsinhalte.
Freie Waldorfschule Bremen
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Die Hausbau-Klasse an der Touler Straße
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Dachdecken
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Der große Gatsby im Theaterprojekt
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Erntedank
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Proben für das Zirkusprojekt
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Präsentation auf dem Marktplatz
Vier Waldorfschulen gibt es in Bremen, die in der Touler Straße in Schwachhausen ist die älteste. 1949 wurde sie gegründet, und schon das Schulgebäude weist auf die Besonderheiten hin: Lehrkräfte haben die inzwischen denkmalgeschützte Schule gemeinsam mit Architekten als einen „pädagogischen Bau“ entworfen, in dem jedes Klassenzimmer mit seinem Form- und Farbkonzept auf die unterschiedlichen psychologischen Ansprüche der Schüler:innen je nach ihrem Alter ausgerichtet ist. So fühlt man sich in den Räumen für die erste Klasse wie in einer geschützten Höhle, die 8. Klasse freut sich über die Offenheit und Klarheit im Bauhaus-Stil. Für die 1919 von Rudolf Steiner gegründete Waldorfpädagogik ist das Wesen des Kindes ausschlaggebend für die Unterrichtsgestaltung, und so verstehen sie ihr Curriculum als einen sich ständig entwickelnden Rahmenlehrplan, der in der Zusammenarbeit zwischen Lehrkräften und Schüler:innen laufend individualisiert und verändert wird. Anstelle eines starren Stundenplans wird in „Epochen“ gelernt, die alle drei Wochen wechseln. Als so genannte „genehmigte Ersatzschule“ ist die Waldorfschule Touler Straße eine private Gesamtschule, an der die Schüler:innen von der ersten Klasse bis zum Abi nach dem 13. Schuljahr ohne Wechsel von Schule oder Klassengemeinschaft unterrichtet werden können. Auch die Klassenlehrer:innen bleiben bis zu acht Jahre lang die Hauptbezugspersonen.
Von wegen Namen tanzen...
Während vor 70 Jahren noch die Eurythmie, also die Bewegungskunst als Mittelpunkt des Konzeptes galt und oft als „Namen tanzen“ belächelt wurde, ist dieser einst visionäre Ansatz unter dem erstrebenswerten Ziel der Salutogenese – also der Entstehung und Erhaltung der Gesundheit – längst auch in Regelschulen angekommen, weshalb man Waldorfschulen heute durchaus als Avantgarde in Sachen Inklusion, ökologischer und sozialer Erziehung sowie selbstbestimmtem Lernen betrachten darf. Konkret bedeutet das, dass Schulwissen wie beispielweise Geschichte und Musik in Kombination vermittelt werden, dass parallel zum Unterricht Jahresprojekte wie Orchester, Theater, Handwerks- oder Sozialpraktika von den Schüler:innen eigenständig erarbeitet und präsentiert werden, handwerkliche oder musische Talente im Schulgarten, beim Nähen, Weben oder auf der Bühne gefördert werden.
Oberschule am Leibnizplatz
Auch die Schule in der Neustadt will ihren Unterricht zeitgemäßer gestalten, um die Schüler:innen auf die Welt von morgen vorzubereiten. So gibt es schon seit 2014 den Leistungskurs „Darstellendes Spiel“, der in Form eines Modellversuchs des Landes Bremen bundesweit einzigartig war und im letzten Oberstufenjahr das Thema Tanz und Tanztheater als praktischen und theoretischen Schwerpunkt setzt. Ganz neu starten ab dem Schuljahr 2022/23 die neuen 5. Klassen als Pilotjahrgang im Fach THEA. Die Abkürzung steht für Themenorientiertes Arbeiten, bei dem die Kinder und Jugendlichen nicht isoliertes Wissen anhäufen, sondern ihren individuellen Stärken entsprechend und mit Neugier für die Themen begeistert werden sollen. Während sie dort lernen, Herausforderungen wie Digitalisierung oder Klimawandel zukunftsorientiert zu meistern, üben sie sich in Kompetenzen wie überfachliches Denken, Gestaltungsfähigkeit und Haltung. Sieben Wochenstunden sind vorerst für die fächerübergreifende und interessengeleitete Projektarbeit reserviert, hinzu kommen Forschungsphasen und Präsentationen ihrer Ergebnisse vor Eltern oder im Stadtteil. Um eigene Lernwege zu entwickeln, nutzen die Schüler:innen unter fachlicher Hilfe sowohl digitale als auch analoge Lernumgebungen.
Dabei spielt der Aspekt der Nachhaltigkeit nicht nur in den Themen, sondern auch in der Lernweise eine wichtige Rolle.
So geben die 17 UN-Nachhaltigkeitsziele die Projektoberthemen vor, die von den Schüler:innen nach eigenen Ideen mit Inhalten gefüllt werden. In einem Schuljahr durchlaufen sie sechs Projekte und entwickeln Forscherfragen, wobei die Inhalte und Kompetenzen aus den vorgegebenen Regel-Bildungsplänen in den Forschungsprozess einfließen.