
© Björn Lubetzkie
Hirun Hammerschlag greift zur Waffe, sein Gegner weicht zurück und fällt ins Gras. „Bei der Macht des Feuers, lass uns wahre Worte sprechen!“ Schon steht der Gegner Horak Hammerschlag wieder putzmunter auf den Beinen. Nächste Szene, tiefstes Mittelalter: Wir befinden uns unter Zwergen: „Ich bin der 5. Cousin der 7. Mutter, 5. Grades", erklärt der kämpferische Zwerg, „Wir kommen alle aus einem Clan!". Die Szene haben sich Paul und sein Freund gerade ausgedacht, ganz spontan sind sie in ihre Fantasywelt abgetaucht.
Paul ist im Life Action Roll Playing-Fieber, kurz LARP. Seit circa drei Jahren schlüpft der 11-jährige Paul regelmäßig in verschiedene Rollen, Zwerge sind seine Favoriten, manchmal wird er auch zum Heiler oder Elb.
Dieses Open-Air-Rollenspiel findet ohne Zuschauer statt, eine Art Improtheater ohne Publikum. Die Organisatoren geben die Geschichte und ein Grundgerüst vor, die Spieler erfinden ihre Charaktere, mit denen sie in dem Plot agieren. Keiner der „LARPer" muss genaue Texte lernen, alles entsteht aus der Situation heraus.
LARP existiert in Deutschland bereits seit knapp 30 Jahren, schon lange vorher übten sich Menschen in mittelalterlichen Gesellschaftsspielen, zunächst in Form von Fantasy-Tischrollenspielen, später stellte man die Spielhandlungen real dar und traf sich dazu in selbst gefertigten Gewändern und mittelalterlichen Verkleidungen. Derzeit gibt es in Deutschland jährlich mehr als 600 öffentlich ausgeschriebene Veranstaltungen und zwischen 30.000 und 40.000 aktive LARPer. Verschiedene Vereine bieten inzwischen auch Live-Rollenspiele für Kinder und Jugendliche an, meist betreut von Erlebnispädagogen. Manche treffen sich regelmäßig für ein paar Stunden, um Kostüme zu entwerfen und Waffen aus Schaumstoff zu konstruieren, viele verbringen ein ganzes Wochenende miteinander. Auf den so genannten Cons (aus dem Englischen: Conventions = Zusammentreffen) tauchen die Rollenspieler drei bis vier Tage lang vollständig in ihre eigene Fantasywelt ab.

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Ein phantastisches Hobby
Zum ersten Mal haben Paul und seine Familie ganz zufällig in einer Zeitschrift beim Kinderarzt vom LARP gelesen. Paul war gleich Feuer und Flamme, immer schon hatte er sich für Fantasygeschichten begeistert, jedes Jahr gab es ein neues Holzschwert zu Weihnachten. Kurz darauf beobachtete er auf einem Mittelaltermarkt, wie eine Gruppe Kinder gegeneinander kämpfte, verkleidet, sie sahen aus wie aus einer Zeitmaschine gepurzelt. Paul kämpfte mit und war begeistert. Vor allem auch von den Kostümen, Gewandungen in der LARP-Sprache.
Ab jetzt träumt er davon mitzumachen, so richtig einzutauchen. Einige Zeit später fährt er gemeinsam mit seiner Mutter auf sein erstes Mittelalter-Fantasy-Con in der Nähe von Verden/Aller. Hier, auf dem 32.000 Quadratmeter großen Pfadfindergelände in der Hasenheide entsteht dreimal im Jahr die phantastische Welt des Vereins „Spektakulus" (www.spektakulus.de). 300 bis 400 Teilnehmer, darunter auch einige Kinder und Jugendliche, tauchen in phantastische Welten. Übernachtet wird in Zelten. Die Zelte, die auf dem Platz stehen, werden vom Veranstalter gestellt und sind „ambientegerecht". Manche Teilnehmer*innen reisen mit ihren eigenen „normalen" Zelten an, die dann außerhalb des Spielbereichs aufgestellt werden. Innerhalb der „Ambiente"-Zelte darf man seine normale Campingausrüstung auspacken. „Outtime", kurz OT, lautet die LARP-Bezeichnung für Aktionen außerhalb des Spieles. Auch die Verpflegung ist OT.
Die Veranstaltung wird seit 10 Jahren vom Verein Spektakulus e. V. organisiert, einer der LARP-Veranstalter in Norddeutschland. Die Ausbilder sind qualifiziert, jeder Betreuer ist mindestens im Besitz der Jugendleitercard (Juleica) und hat einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert. Viele der Betreuer*innen arbeiten im „richtigen Leben" in sozialen oder pädagogischen Bereichen, z. B. in der Kinder- und Jugendarbeit oder als Erzieher*innen.
Die Cons der „Drachenhöhle" (www.drachen-hoehle.de) in Ganderkesee – einem weiteren LARP-Veranstalter in Norddeutschland – richten sich gezielt an Kinder zwischen acht und vierzehn Jahren, zusätzlich werden reine Erwachsenen-Cons veranstaltet. In der Drachenhöhle wählen die Teilnehmer*innen zwischen einem Wettkampfspiel, vergleichbar etwa mit Ritterspielen, und einem Abenteuer-Con. In letzterem kämpfen Charaktere in dem fiktiven Königreich Saya gegen feindliche Eroberer. „In dieser Welt sind fast ausschließlich Kinder unterwegs", erklärt Daniel Wiese, Hauptorganisator der Drachenhöhle. An die 100 von ihnen tauchen hier dreimal im Jahr in die Welt der Elfen, Orks, Zwerge und Menschen ein. „Viele lernen sich hier erst kennen und kommen dann gemeinsam wieder", so Wiese.

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Waffen aus Schaumstoff
Bevor ein Spiel startet, werden die Waffen geprüft und die Regeln festgelegt: So müssen zum Beispiel Schwerter aus Schaumstoff sein, damit sich die Spieler*innen nicht verletzen. Alle LARP-Waffen sind ungefährlich. Die Spieler*innen entscheiden, welche Figur sie verkörpern, der Charakter bzw. die Rolle wird festgelegt. „LARP ist großes Theaterspiel im Freien", erklärt Barbara Weste, Pauls Mutter, die ebenfalls an verschiedenen Cons teilgenommen hat. „Damit das Spiel funktioniert, braucht es Geschichten und eine Welt der Fantasie, in die man eintauchen kann. Die Spielleitung denkt sich einen Plot aus, eine Geschichte, die zu Beginn des Cons allen erzählt wird. Der Spielleiter koordiniert das Spiel und sorgt dafür, dass sich alle LARPer an die Regeln halten. Er darf das Spiel jederzeit unterbrechen bzw. einzelne Spieler für eine Zeit aus dem Spiel nehmen bzw. die Regeln klären.
Es geht um den gemeinsam Spaß
Auf den ersten Blick klingen viele LARP-Spielwelten martialisch, eine Art Räuber-und-Gendarm-Spiel in Echtzeit, die Bösen werden bekämpft, die Beherrschung der Waffen steht im Vordergrund. Barbara Weste erklärt, dass es eben nicht um das reine Kämpfen gehe, es sei eher das freie Spielen, und das Eintauchen in die Fantasiewelt, das den Reiz des LARPs ausmache: „Die Kinder erlangen praktische Fertigkeiten, reparieren Rüstungen, stellen Pfeil und Bogen her, machen Feuerprüfungen oder brauen Kräutertränke. Wenn man die Geschichte mitspielt, vergisst man den Alltag und steigt in die Fantasiewelt ein." Die Teilnehmer*innen lernen, spielerisch Konflikte zu lösen, Positionen zu übernehmen, die man im echten Leben nicht hat und können sich da ausleben. Es gehe auch darum, den Gegner zu überzeugen, mit Worten, mit einer Haltung, so Weste. Diese Fertigkeiten wiederum helfen den Kids auch im wahren Leben, davon ist Paul überzeugt: „Du schlüpfst in eine andere Rolle, du bist den Alltag los, du bist nicht mehr der schüchterne kleine Junge, der in der letzten Reihe sitzt und seine Matheaufgaben macht. Beim LARP bist du der draufgängerische Zwerg, der sein ganzes Wissen einsetzt. Viele Leute sagen, du bist dadurch selbstbewusster," erklärt der LARP-Profi.

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LARP im Garten
Paul hat inzwischen einige Freunde mit seinem LARP-Fieber angesteckt, einmal pro Woche trifft er sich mit Freunden im Garten. Wer Lust hat verkleidet sich. Manchmal wird Feuer gemacht, oft wird gekämpft oder gewerkelt. Mädchen sind selten dabei, das findet Paul schade, die könnten so wunderbar ebenfalls passende Rollen finden, die ihnen Spaß bringen.
Ein letzter Kampf noch, dann verabschiedet sich Hirun Hammerschlag alias Paul. Bis zum nächsten Dienstag spätestens – darauf freut er sich jetzt schon.

© Suse Lübker